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Der «Skandalfilm»

Den Anfang machte ein Kuss. Achtzehn Sekunden genügten, um im Frühjahr 1896 den vermutlich ersten Skandal der Filmgeschichte auszulösen. Die Tageszeitung New York World hatte US-Filmpionier Thomas Alva Edison beauftragt, eine Szene aus dem beliebten New Yorker Lustspiel The Widow Jones nachzustellen: einen Kuss. Unter der Regie von William Heise küssten sich deshalb im April 1896 die Schauspieler May Irwin und John Rice in Edisons Black Maria Studio in West Orange, New Jersey, vor laufender Kamera wie sie es zuvor bereits unzählige Male auf der Bühne getan hatten. Das heißt eigentlich küssen sie sich nicht wirklich. Ihre Wangen berühren sich, während sie neckisch lächelnd – und natürlich tonlos – miteinander reden. Dann zwirbelt er sich seinen Schnurbart zurecht, beugt sich zu ihr und tut so als würde er sie küssen. Der vermeintliche, in Naheinstellung gezeigte, Kuss dauert kaum länger als eine Sekunde. Aber das, was einem aufgeklärten Kinogänger heute geradezu keusch und ein bisschen albern vorkommt, war in den frühen Tagen des Films eine Sensation. Mit der ersten Kussszene der Filmgeschichte wurde Kiss auch zum ersten Film, der den Ruf nach Zensur laut werden ließ: «Bei so etwas sollte die Polizei einschreiten!», ereiferte sich Herbert S. Stone, der Herausgeber der Chicagoer Literaturzeitschrift The Chap Book in der Ausgabe vom 15. Juni 1896.

Doch auch über 80 Jahre nachdem May Irwin und John Rice so getan hatten, als ob sie miteinander knutschten, konnten Küsse noch einen Skandal entfachen, wenn wie 1977 in Wolfang Petersens Konsequenz zwei Männer daran beteiligt waren. Überhaupt entzündeten sich viele Filmskandale an der Darstellung von Sexualität. Aus dem, was jeweils als skandalös empfunden wurde, lässt sich auch ein Wandel der geltenden gesellschaftlichen Sexualmoral ablesen. Aber so sehr sich die Bilder, die dazu in der Lage waren, für einen entrüsteten Aufschrei zu sorgen, mit der Zeit auch änderten, ähnelten sich doch die Vorwürfe. Als skandalös empfunden wurde das, was jeweils als «obszön» und «unzüchtig» galt. 1896 rief dann eben ein Kuss, 1933 in Ekstase die nackt badende Hedy Lamarr die Sittenwächter auf den Plan. Und 1951 sorgte die lasterhafte Hildegard Knef in Die Sünderin für einen Sturm der Entrüstung. Neben der Sexualität erwiesen sich im Laufe der Filmgeschichte vor allem die Themen Gewalt, Religion und Politik als skandalträchtig; und das besonders, wenn Filme, was häufig der Fall war, gleich auf mehreren Gebieten gegen geltende Tabus verstießen. Die Filme, die dabei im deutschsprachigen Raum die deutlichsten Spuren hinterließen, werden in Skandalfilme ausführlich vorgestellt: mit prägnanten Zusammenfassungen des jeweiligen Films und des Skandals, den er verursachte, exemplarischen Zitaten aus den zeitgenössischen Reaktionen, Auszügen aus Zeitungsartikeln, Boykottaufrufen, FSK-Entscheiden, Interviews sowie zahlreichen weiteren Informationen zu Regisseuren, Darstellern, Filmströmungen oder politischen und gesellschaftlichen Hintergründen. Darüber hinaus werden zahlreiche weitere Skandalfilme chronologisch geordnet und kommentiert aufgelistet. Zeitlich umfasst die Auswahl die gesamte Filmgeschichte von ihren Anfängen bis heute. Im Mittelpunkt stehen Werke, die im deutschsprachigen Raum als Skandalfilme wahrgenommen wurden, weil sie hier entweder selbst einen Skandal auslösten oder aber mit dem Skandal, den sie andernorts verursachten, zumindest für Gesprächsstoff sorgten.

Diese öffentliche Debatte ist neben dem Verstoß gegen einen gesellschaftlichen Konsens eine weitere Grundvoraussetzung für jeden Skandal. In freiheitlichen Gesellschaften reiben sich Filmskandale an jeweils geltenden Moralvorstellungen. Lockern sich diese, verlieren auch die Filme ihre skandalöse Wirkung. Die Geschichte der Skandalfilme lässt sich daher auch als exemplarische Kulturgeschichte lesen. Da die moralische Entwicklung in der westlichen Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg überwiegend in eine Richtung ging – positiv ausgedrückt: die einer moralischen Liberalisierung, negativ formuliert: eines Werteverfalls – wurde schon mehrfach das Ende aller Skandale heraufbeschworen. Bereits 1958 soll André Breton zu Luis Buñuel, dem Schöpfer des surrealistischen Skandalfilms L’Age d’or (Das goldene Zeitalter, 1930) gesagt haben, es sei «nicht mehr möglich, bei irgend jemandem einen Skandal hervorzurufen». In einem 1966 veröffentlichten Interview schloss sich Buñuel dieser Auffassung an. Beide irrten. Zum Glück, muss man anfügen. Denn während im Spannungsfeld von Moral und Freiheit am einen Ende der Skala totalitäre Staaten Skandalfilmen den Nährboden entziehen, wären es am anderen Pol tabulose Gesellschaften, in denen es keinerlei gemeinsamen moralischen Konsens mehr gibt. Eine Gesellschaft ohne Skandale, ein Kino ohne Skandalfilme sollte man sich da eher nicht herbeiwünschen.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, weshalb auch für die Zukunft mit Skandalfilmen zu rechnen ist. Weil das Publikum Spaß daran hat. Skandale boomen. Und es wäre geheuchelt, zu behaupten, dass ein Buch über Skandalfilme nicht auch der Lust an der Sensation frönte, am Verruchten, Verbotenen, am Spektakel, am Streit, am Drama, am Voyeurismus. Ohne all das wäre aber auch das Kino, wie wir es kennen, kaum vorstellbar. Skandalfilme bilden insofern eine Art Essenz des Kinos. In der Geschichte der Skandalfilme zeichnet sich die Geschichte des Films insgesamt ab, in seiner ganzen Vielfalt; mitreißend, quälend, unterhaltsam, streitbar: vom Kunst- bis zum Kommerzkino, vom Meister- bis zum Machwerk.